30 Jahre „friedliche Revolution“ und „Mauerfall“ - der Rückblick auf die Wendezeit, was interessiert er mich heute noch, abseits des medial aufgefrischten Jubiläums? Eigentlich ist diese persönliche Truhe seit einiger Zeit fest verschlossen, denn meine Erinnerungen und Gedanken werden die Welt kaum bewegen. Ich bin mit diesem Wandel trotz allem, wie er geschehen ist, weitgehend im Reinen und vielleicht bin ich auch nur wegen einer möglicherweise jedem Menschen mittleren Alters geläufigen Bilanz erst wieder angehalten, an einem Sonntagmorgen noch einmal in sie hineinzuschauen.
Eines jeden ostdeutschen Menschen Biographie bringt sicher viel unterschiedliches zum Vorschein, aber wohl auch ähnliches. Vielleicht reden wir von vergebenen Chancen, vielleicht auch von Möglichkeiten, die manch einer nie hatte. Oder wir feiern unsere Erfolge noch einmal, und vergessen hoffentlich nicht jene, in denen sich Enttäuschung und eine große Leere breitgemacht hat.
Die persönlichen Geschichten aus jener Wende können wir uns, wenn wir es wollen, bestimmt noch sehr genau in Erinnerung rufen, diese Wochen zwischen August und November, in denen so deutlich spürbar war, dass sich irgendetwas verändert, aber keiner wusste, in welche Richtung es geschehen würde - und die Zeit danach.
Im Frühjahr des Jahres 89 hatte ich gerade eine liebe Freundin in den Himmel verabschieden müssen und dabei gehofft, dass sie dort oben als dasselbige liebreizende Wesen angekommen war, als welches sie mir in meiner Tristesse begegnet ist. In mir entwickelte sich ein anhaltender emotionaler Zustand, der mich geistig lethargisch erscheinen ließ, der eine Zeitlang anhielt und sich auf alle Lebensbereiche ausbreitete. Die Gewalt beim Fußball und die Parolen gingen mir schon lange gegen den Strich, so dass ich eher pflichtgemäß dort mitfuhr, mich aber innerlich langsam von dem trennte, was einige Jahre wichtiger Bestandteil meines Daseins gewesen war. Andere Losungen hatte ich, so sehr ich sie auch bekämpfte, tief verinnerlicht.
Nur hatte ich als 17jähriger politisch gar keine so große Klappe mehr wie einst zuvor und war latent von dem bedroht, worin einige Kumpel schon einsaßen. Staatssicherheit und Polizei hatten ganz klare Ansagen gemacht, einiges mit gewaltsamem Nachdruck. Fast nebenher schleppte ich mich nahezu jeden Tag in eine Handwerkerlehre, die fernab meiner Fähigkeiten lag, welche aber gerade verfügbar gewesen ist, und der Kummer darüber und über so vieles mehr ließ sich zumindest zeitweise in dieser oder anderer Spirituose gut einlegen, ohne dass ich merkte, dass jenes Trostwasser mehr und mehr zum Lebensinhalt geworden war.
Die ersten (West-)Medienberichte ließen nicht einmal erahnen, was noch kommen würde. Menschen verließen die DDR in Richtung Westen über Drittländer, „Glasnost“, „Perestroika“ und „Paneuropäisches Picknick“ waren Begriffe, die bewegten. Von einem Tag auf den nächsten fehlten Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. Immer wieder und öfter und so anders, als in den Jahren zuvor, in denen nur hin und wieder jemand verschwunden gewesen ist und ich im Nachhinein manchmal nur hatte fantasieren können, wohin. Auch ein Kollege und ich wollten weg, in die westdeutsche Botschaft nach Warschau und wir verloren dabei nicht einmal unseren Humor. Mit Luftmatratzen und Longdrinks wollten wir die Oder bewältigen. Die Grenze war auch in diese Richtung seit den Solidarność-Aktivitäten schon Jahre zuvor weitgehend geschlossen worden. Die Lage an der zur ČSSR war mitunter unklar und konnte sich täglich ändern. Ich haderte in meinen Gewissenskonflikten, denn so sehr ich mich auch in den Westen sehnte, ahnte ich doch, dass vieles von dem, was sie uns einst über ihn lehren wollten, nicht ganz unwahrscheinlich sein würde. Sicher war nicht jeder Mensch dort ein Teufel, so wie es die Suggestionen manch eines Hardliners verheißen sollten, aber das System und seine Kriege stellte ich mir fast ebenso unmenschlich vor, wie unsere eigene Gefangennahme. Und doch war gerade in dieser Zeit der sich gegenüberstehenden Weltanschauungen für Momente auch Menschlichkeit und Gefühl füreinander und über jede Grenze hinweg spürbar. Was aber sollte ich irgendwo dort drüben, ohne Kontakte und eine abgeschlossene Berufsausbildung? So schlecht, wie ich mein Leben empfand und ich auch mit der DDR haderte, so sehr wusste ich doch, dass ich in dieses Land, zu Freunden und zur Familie gehörte. Mein Kollege war dann schließlich von einem auf den nächsten Tag verschwunden, ohne Abschied, so wie es wohl für alle am Besten gewesen ist. Der Meister, von dem wir wussten, dass er auch einen Job bei „der Firma“ hatte, fragte sehr viel und bekam keine Antworten. Ich hatte keine, wollte sie auch nur für mich und wusste meinen Kollegen noch nicht in Sicherheit. Nur eines konnte ich aus Erfahrung sagen: Untersuchungshaft ist ein schlimmer Zustand, in dem man mit seinen Ängsten allein ist.
Wenn wir nicht irgendjemanden in den Fernsehbildern aus den Auffanglagern erkannten, wusste niemand, wo all unsere Bekannten steckten, auch noch nicht, als es in Leipzig, Berlin und Dresden ganz offen unruhig wurde und die Menschen auf den Straßen um ein Vielfaches mehr wurden, als bei den wenigen kleineren Scharmützeln zwischen einzelnen Randgruppen und der Staatsmacht in den vorangegangenen Jahren.
Ich erlebte diese Zeit wie in Trance, schaute fern, suchte Informationen, grübelte und wusste kaum, wem ich mich anvertrauen konnte. Während wir früher die üblichen Stasi-Typen schon aus weiter Ferne gerochen oder die sich uns ohnehin oft genug zu erkennen gegeben hatten, war die Situation nun viel unübersichtlicher geworden. Kumpel waren Spitzel geworden und selbst beim Fußball wurden von ehemaligen Freunden, die plötzlich FDJ- und Stadionordner waren, unsere Transparente daraufhin kontrolliert, ob sich Losungen oder Schriftzeichen des Neuen Forum, der gerade gegründeten Oppositionsbewegung, auf ihnen befanden.
Ich reiste in diesen Wochen viel zu Untergrund-Konzerten auf Dörfern und in Städten. Wir wurden von der Polizei, die Punks, Metaller und Gruftis (die sich zunehmend auch untereinander bis hin zu schlimmsten Verletzungen die Gesichter einschlugen - ein Phänomen, das in den darauffolgenden Jahren noch weitaus heftiger werden sollte) noch immer als subversiv und seltsam empfunden und weiterhin ins Visier genommen. Eigentlich war alles wie immer und doch so anders gewesen in einer Zeit, in der das tägliche Leben fast normal monoton und dann wieder so aufregend unterschiedlich ablief. Den Protesten in den großen Städten folgten die in kleineren. Auch in Brandenburg an der Havel fanden Menschen erst in die Kirchen, dann auf die Straßen. Zu Tausend zogen wir schweigend mit Kerzen und Transparenten in den Händen durch die Innenstadt, die allgegenwärtige Furcht vor einer „chinesischen Lösung“ innehabend. Sie geschah aber nicht. Die Menschen am Wegesrand zeigten sich wohlwollend solidarisch und die Polizei, positioniert in den Nebenstraßen, hielt sich zurück. Einen Tag nach diesem, nachdem wir in der Gotthardtkirche geredet und gesangliche Brücken gebaut hatten, fielen anderswo die Mauern. Der Weg zum Kurfürstendamm war frei und dort bekam ich schon ein paar Stunden später eine Vorahnung auf das, was uns bevorstehen würde: Glitzernde Schaufenster in trüber Novemberatmosphäre, vor denen sich Obdachlose und Junkies wie einer anderen Welt zugehörig bewegten. Ich spürte - in dieser Nacht noch ohne Begrüßungsgeld - nur Kälte, Hunger und erlebte uns schließlich nach Ladenschluss aus glamourösen Warenhäusern vertreibende Wachmänner. Dabei fühlte ich mich heimat- und gesellschaftslos. Eine Currywurst kostete an der Gedächtniskirche den Ostdeutschen in seiner Währung das Drittel einer durchschnittlichen Monatsmiete und möglicherweise wurde schon hier klar, wo sich viele von uns bald befinden sollten. Von all der rasch gejubelten Deutschlandstimmung wollte sich in mir nichts verankern, außer das Gefühl, sich ein kleines Stück weit aus einer schlimmen alten Fessel gelöst zu haben.
Die großen Erniedrigungen und bis heute spürbaren Verletzungen kamen für zu viele Menschen erst im Abklang der großen Festlichkeiten. Seit 1989 gibt es in Europa zumindest westwärts gesehen keine Mauern mehr. Wenn ich mir vor Augen führe, dass heute wieder neue um Staaten und bessere Wohngegenden gebaut werden, habe ich den Eindruck, dass wir aus dem damaligen Wandel und den Hoffnungen jener Zeit kaum etwas mitgenommen haben.
Ich selbst beendete 1990 die Lehre und beschäftigte mich wieder mit der Musik, die mir einst genommen war. 30 Jahre Mauerfall bedeuten für mich Punk, Metal, Rock und Tango in Projekten von „Mutilated Shit“ bis hin zu „Jenseits schillernder Welten“, in denen ich mein Weltgefühl und meine Gefühlswelt in erzählten Geschichten sprechen ließ. Daran möchte ich mich gerne erinnern. Alles Negative, was in dieser Zeit unauslöschlich eingebrannt geschehen ist, möchte ich nun gerne wieder in der Truhe wissen. Obgleich es gut ist, all seine widerfahrene Pein zu kennen, bin ich lange nicht mehr auf der Suche nach Schuld. Mir ist mittlerweile egal, wer irgendwann bei der Stasi gewesen ist und welche Ungerechtigkeiten mit der neuen Zeit einhergegangen sind. Vielmehr interessieren mich unsere Möglichkeiten, keine neuen zu begehen oder zuzulassen...