Gedanken vor einer Wahl

Wie wir unsere Welten erleben, hängt wahrscheinlich sehr davon ab, wie oft und wie stark wir enttäuscht, verletzt oder gar missbraucht worden sind und ob wir adäquate Bewältigungsstrategien in uns verankern konnten, um nicht gleichermaßen zu Ungerechten, zu Abwertenden oder gar zu Tätern zu werden. In unseren Wahrnehmungen ist sicher maßgeblich, wie sehr wir in unserem (frühen) Leben vertrauen konnten und worin wir Halt fanden. Vielleicht empfinde ich es in meinem eigenen Dasein deshalb mitunter als schwierig, mit meiner inneren Welt und den äußeren Gegebenheiten in Einklang zu gelangen und abzuwägen, ob sich das verletzte Kind in mir meldet, oder ob es die weltlichen Umstände sind, die mich in Wallung bringen. Dabei gelange ich immer wieder zur Erkenntnis, dass es zwar gut ist, meine inneren Prozesse zu kennen, jedoch keinerlei Meditation oder ähnliches in mir ausgleichen kann, was ich als ungerecht empfinde und das stattdessen eher Protest und eine gewisse Kampfereitschaft auslösen sollte.



Als Katharina, Göran und ich uns eine Woche vor der Europa-Wahl auf einem Marktplatz unserer Heimatstadt beim „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ gegen politische Extreme und für eine gerechtere Gesellschaft aussprachen, tat ich dies mit sehr ambivalenten Empfindungen. Ich hadere schon seit langem mit einigem, was unter dem Label "Demokratie" geschieht und habe kaum Vertrauen in eine Politik, welche in den letzten drei Jahrzehnten Gesetzgebungen gestaltete, die eine immer größer werdende Zahl an Menschen in diesem Land benachteiligte und die Lebenswelten verschiedener (ökonomischer) Schichten eines Volkes so weit voneinander entfernen ließ, dass diese für die jeweils andere schon absurd vorkommen mag. Diese Politik legte ihre Wertschätzung nahezu ausschließlich in aus meiner Sicht recht seelenlose Wirtschaftsbereiche, hofierte sie mitunter bis hin zum Verbrechen und ignorierte jene Felder fast komplett, die für kultivierte Menschen mindestens genauso wichtig - wenn nicht sogar wichtiger - sind, wenn sie nicht verrohen wollen. Wie aber kann eine gute Politik aussehen? Wird sie nur ein Kernthema umfassen können, wie es simple Wahlwerbung suggeriert, oder sollte sie die Komplexität unserer Abläufe verstehen, von der Endlichkeit der Ressourcen, der Vergiftung und Verwüstung unserer Lebensgrundlagen, den Auswirkungen von Finanz- und Produktionsbedingungen bis hin zu unseren eigenen, bedauernswerten Psychen, die uns selbst so oft erhöhen und das, die oder den Andere/n im Gegenzug abwerten (müssen)?

Und ist es nur eine schlechte Politik, die unsere Probleme verschärft? Hätte sie überhaupt eine Chance sich durchzusetzen, wenn wir nicht dazu bereit wären, uns gegenseitig zu fressen und wir stattdessen füreinander eintreten würden? Ich komme aus einer Generation, deren unmittelbaren Vorfahren das gegenseitige, nachbarschaftliche Abschlachten noch erlebt haben und deren Traumata zumindest bis hin zu ihren Enkeln noch immer spürbar sind. Besuche ich Kriegsgräberstätten, habe ich plötzlich die Bilder eines geschändeten, sechzehnjährigen Mädchens vor mir, das an der Hand seiner Mutter und nur noch mit ihrer Erinnerung an einen verschollenen Vater unterwegs ist, um irgendwo eine neue Heimat zu finden. Dieses Getriebensein, dieses Nirgendwo-Ankommen ist bis heute - zwei Generationen danach - ein Teil von mir. Aber auch die einst vermeintlich sicheren Plätze scheinen nun wieder unsicherer zu werden, aufgrund der Bewegungen in der Welt, aber auch wegen einer immer größer werdenden Ignoranz bis hin zur Bereitschaft, Menschen sterben zu lassen - das Prekariat, den Ausländer, den Nachbarn. Wir Menschen haben auch nach schlimmsten Kriegen nie diese Bereitschaft aufgegeben, andere zu opfern - auch nach den bemerkenswerten Ideen und Errungenschaften wie einem fast geeinigten Europa und - wenn auch noch unstabiler - Sozialsysteme.

Scheinbar - so erlebe ich es - haben viele tausend Jahre Menschheitsgeschichte nicht gereicht, um unsere oft so beschränkten Blicke derart zu erweitern, dass wir nachhaltige Veränderungen gestalten können, die mehr beinhalten, als den kurzfristigen Vorteil in einer langanhaltenden Tragödie. Ich frage mich immer wieder, ob wir Menschen für Eigenverantwortung, Fairness, Mäßigung - schlicht für eine funktionierende, gerechte Gesellschaftsordnung - nicht geeignet sind. Einer Sache jedoch bin ich mir sicher: Solange wir uns nicht von Glaubenssätzen verabschieden, die uns immer wieder in Konkurrenz zueinander stellen - in einer Stadt, in Europa, in der Welt oder vor Gericht - werden wir wohl weiterhin im ewig gleichen, menschengemachten Dilemma existieren - und irgendwann darin untergehen. So sehr mich unsere Kriege auch immer wieder schockieren, so wenig überraschen sie mich, weil sie die Fortsetzung und Ergebnis unserer wirtschaftlichen Vorstellungen sind - der einfache Kampf um Lebensräume und Ressourcen, dazu jener der Egos und Persönlichkeitsstörungen.

Was also steckt hinter Worthülsen wie "Demokratie" und "Toleranz"? Womit füllen und wie definieren wir sie? Für mich persönlich endet Toleranz dort, wo getötet wird und Demokratie, wo sie uns sehenden Auges in schier unüberwindbare, soziale Konflikte und ökologische Katastrophen führt. Unsere Demokratie hat tiefe Risse, wenn Menschen, die auf Missstände und Verbrechen hinweisen, dafür jahrelang in psychiatrischen Anstalten oder Knästen sitzen, wenn jene während der Aufklärung behindert oder für krank erklärt werden. Unsere Wertvorstellungen haben ebensolche Risse, wenn uns die Gesellschaft egal wird, zu der unsere Alten, unsere Kinder und unsere Kranken genauso gehören, wie jene, die wir feiern, weil sie erfolgreich sind. Jedoch trotz dieser tiefen Risse und der Notwendigkeit von Veränderungen wünsche ich mir anstatt dieser Demokratie keine Diktatur der vermeintlich Stärkeren, die lediglich Figuren austauschen möchte, aber die Lebensbedingungen gerade für den unteren Rand der Gesellschaft (der bis weit in die Mittelschicht reichen dürfte) noch weiter verschärfen und - weitab von Vielfalt und fairer Verteilung - ansonsten alles beim Alten belassen möchte. Jene, die sich nun lautstark und mitunter unflätigst in Stellung gebracht haben, um Wahlen zu gewinnen, werden es sicher nicht sein, welche die dringend notwendigen und wenn möglich friedlichen Veränderungen mit sich bringen werden. Sie werden die Welt vielleicht noch einmal wandeln, sie aber sicher nicht verbessern...

Es gibt durchaus kluge und beachtenswerte Ideen zu nachhaltiger, ökologischer Produktion, zu gesünderer Ernährung, zu gerechteren Sozialsystemen, zu vielem, das unsere Ängste reduzieren könnte, welche uns momentan so gefährlich werden lassen. Diese Gedanken werden jedoch wesentlich leiser kommuniziert, als die nächste Sau, die wieder und wieder und willig aufgenommen medial durch das Land getrieben wird. Unter welchen Umständen aber wären wir überhaupt bereit, uns anderen als den bisherigen Denkweisen zuzuwenden? Immer wieder begegnet mit das seltsame Phänomen des Glaubens, mit den stetig gleichen Verhaltensweisen zu anderen Ergebnissen zu kommen. In der Politik "der Großen" steht leider vieles für eine Fortsetzung eines aus meiner Sicht sehr zweifelhaften Weges. Wenn ein einst von mir sehr geschätzter Philosoph jetzt sagt, dass eine friedliche Gesellschaft nur mit stetigem Wirtschaftswachstum funktionieren kann, möchte ich widersprechen. Für mich ist dies die Fortsetzung eines Irrglaubens, vielleicht gar eines Wahns, dem wir uns ständig unterwerfen (müssen). Welche Ideen zur Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit sind überhaupt umsetzbar in einem System in dem wir permanent - und seien es noch so sinnlose - Produkte produzieren und - dabei oft auch uns selbst - verkaufen müssen, um unser Versorgungssystem am Laufen zu halten und abgesichert zu sein? Steht hinter einer guten ökologischen Idee eingleich jene nach Marktbeherrschung und Renditemaximierung, wird vom eigentlichen Gedanken wahrscheinlich nicht viel übrig bleiben. Glauben wir also weiterhin an die Säulen eines angenommenen, aber nach meiner Vorstellungskraft kaum möglichen ewigen Wirtschaftswachstum, an Finanzkonstrukte, die gemessen an den Ressourcen eines begrenzten Planeten dauerhaft so nicht funktionieren können? Möglicherweise hat unsere Natur nie Imperien vorgesehen, nie etwas zu groß werden und immer wieder rechtzeitig sterben lassen. Scheinbar ängstigt uns der Gedanke, dass selbst nach einem gesunden Wachstum alles auf eine ganz natürliche Weise wieder verschwindet und auch verloren gehen muss, um neuem Leben seinen Weg zu ebnen. Ein System des materiellen Erbens kann ich in ihr nicht erkennen, außer das Erbe des Lebens an sich. Was also tun wir mit einer in Zahlen stetig wachsenden Menschheit, deren ökologischer Fußabdruck der Planet so nicht mehr lange verkraften dürfte und der sich auf seine ganz eigene Art wehren könnte, die sich weder um Demokratie noch im Toleranz scheren, sondern nur den (grausamen) Gesetzmäßigkeiten der Natur unterwerfen wird?

Was geschieht also, wenn Imperien und Wirtschaftssysteme sterben? Welche Alternativen haben wir? Werden wir dann stabile Systeme haben, die uns auffangen? Werden wir uns das Recht auf Leben zugestehen - vielleicht keines in ausschweifendem Luxus, aber eines in Würde? Dies alles fällt uns doch jetzt bereits schon schwer, sobald es um die vermeintlich jeweils "andere Seite" geht... Möglicherweise würden wahrhaftigere Absicherungen ein Wirtschafts- und Wertesystem voraussetzen, das die Vernunft und die sozialen Wesen in uns fördert und nicht primitive Reaktionen wie unsere Gier. Was geschieht in Zukunft mit all jenen Wesen, die erst der Industrialisierung, nun der Digitalisierung zum Opfer fallen und nicht mehr an der Gesellschaft teilhaben können, weil sie als Konsumenten und Beitragszahler wegfallen? Werden sie zum wertlosen Kanonenfutter? Oder gestehen wir uns allen doch das Leben zu und glauben an eine mögliche, gegenseitige Bereicherung? Ich erlebe Menschen immer wieder - sofern ich sie denn näher kennenlerne - vor allem als träumende, sehnsüchtige, kreative, schöpfende und gleichermaßen temperamentvolle wie besonnene und liebende Wesen, die vor allem in der Gemeinschaft vieles bewegen können. Vielleicht sollten wir jenes in uns wieder bedienen. Wenn wir technischen Fortschritt nicht als Ausbeutungsmodelle verstehen, sondern ihn tatsächlich zum Wohle des Menschen einsetzen würden? Das alles mag klingen, wie ein Märchen aus Tausendundeiner DDR, aber war die Idee, dass möglichst viele Menschen mit einem Mindeststandard an Wohlstand partizipieren, so verkehrt gewesen, auch wenn sie äußerst zweifelhaft umgesetzt worden ist, weil diktatorisch und auf Dogmen setzend und nicht durch die Überzeugungskraft der Vernunft und den Willen des Herzens?

Ich denke: Solange wir uns nicht von Glaubenssätzen verabschieden, die uns immer wieder in Konkurrenz zueinander stellen - in der Stadt, in Europa, in der Welt, in der Gartensparte oder vor Gericht - werden wir wahrscheinlich immer wieder im gleichen, menschengemachten Dilemma existieren und möglicherweise darin auch untergehen müssen. "Wir Menschen sind eben so..." höre ich hin und wieder, aber soll dies wirklich als Legitimation dafür dienen, so zu handeln, dass alles andere außer uns selbst völlig egal wird? Wenn ich mein Kind sehe, sage ich "Nein!"

Mir fällt es mitunter schwer, unsere Widersprüche und die Komplexität unseres Seins zu verstehen, ebenso wie einen Überblick über all die Geschehnisse zu erlangen, die um uns stattfinden. Das Wissen um meine Unfähigkeit lässt mich ehrfürchtig vor dem Ganzen werden - und in vielen Fällen vielleicht auch ruhiger. Politik ist ein schwieriges Ding wie die Welt an sich. Bei manchen Themen werden wir schnelle Lösungen brauchen, um uns Luft zu verschaffen, bei den meisten jedoch Weitsicht, Besonnenheit, Liebe. Der Spinner und Träumer in mir, der Mensch, der sich nicht mit Anderen messen, sondern mit ihnen leben und arbeiten möchte, wünscht sich ohnehin, dass wir unsere aus Urzeiten vorhandene Triebhaftigkeit eher auf Sportplätzen ausleben und in existenziellen Lebensbereichen zu friedfertigen Spielen finden. Noch immer bin ich von der Idee eines grenzenlosen Europas fasziniert, so dass ich mir diese Idee für die ganze Welt wünsche, in der es nur noch natürliche Grenzen gibt, und ethische. Von Regierenden wünsche ich mir Weit- und Überblick. Ich wünsche mir Klug- oder gar Weisheit jener, die unsere Geschicke lenken, die Gesetze erlassen, die richten. Und von allen Anderen wünsche ich mir wenigstens Anstand... 

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